Kirchentumult 1785

Auszug aus dem Frecklebener Kirchlichen Mitteilungsblatt vom Mai 1931 von  E. Kunz:

Der Fürst von Anhalt-Dessau hatte am 13. Dezember 1785 in einer Bekanntmachung „das Nachtleuten und alle unordentlichen Zusammenkünfte des Nachts“ verboten, und das Einläuten des Weihnachtsfestes am heiligen Abend war deshalb unterblieben. Am 1. Feiertag wies der Pastor Friedrich Stahlschmidt in Freckleben – Freckleben gehörte damals zu Anhalt-Dessau – auf dieses Verbot hin riet dringend zu dessen Befolgung. Diese pflichtgemässe und gut gemeinte Ankündigung rief aber eine ungeahnte Wirkung hervor. In dem Bericht des Pastors über diese Vorgänge heisst es: „allein es ist dadurch in der Gemeinde ein solcher Aufruhr entstanden, der einer Rebellion ähnlich ist.“

Der ganze Ort glich einem Bienenschwarm. Die Menschen liefen aufgeregt umher, begaben sich bald zum Kirchenvorsteher, bald zum Richter und verlangten stürmisch die Erlaubnis zum Läuten. Da sie nichts ausrichteten und vor Anwendung von Gewalt zurückschreckten, begab sich abends ½ 10 Uhr Meister Rennickens Sohn und „einige junge Burschen“ zum Geistlichen, sprachen im Auftrage ihrer Eltern die Bitte zum Zurücknahme des Befehls aus und verlangten, dass das am Vorabend unterbliebene Läuten sofort nachgeholt und ausgeführt werde. Der Pastor konnte selbstverständlich diesem Ansinnen nicht nachkommen. Er berief sich auf den fürstlichen Befehl und mahnte dringend zum Gehorsam, damit sie sich nicht in grosse Unannehmlichkeiten stürzten. Die Einwände der Bittenden, dass in Drohndorf und anderen Dördern noch geläutet worden sei, wies er mit dem Bemerken ab, der Fürst werde schon dafür sorgen, dass dies in Zukunft unterbliebe. Jetzt sei Untertanenpflicht, zu gehorchen und sich in die Befehle zu fügen.

Alle gütlichen Ermahnungen waren aber tauben Ohren gepredigt und blieben ohne Erfolg. Am 2. Weihnachtstage kam das Unwetter zum vollen Ausbruch. Nachmittags beim Lesegottesdienst entstand ein solcher Tumult, „dass den Kantor beinahe der Schlag gerührt hätte, und er mit Zittern aus der Kirche kam“.

Der Lärm setzte sich auf der Strasse fort, und um 5 Uhr war er so heftig, dass der Geistliche das Ärgste fürchtete und den Richter Meinicke ersuchte, in der Schenke zwecks Beruhigung der Gemüter eine Versammlung abzuhalten. Die Versammlung fand statt, aber eine Beruhigung erfolgte nicht. Es ging im Gegenteil ausserordentlich stürmisch zu. Allgemein wurde die Ansicht geäussert, es läge überhaupt kein fürstlicher Befehl vor. Schuld an der ganzen Sache sei der Kantor, der sich um die Arbeit des Läutens drücken wolle, ohne aber auf das Neujahrsgeld zu verzichten.

Der Baumeister wurde zum Geistlichen geschickt, mit dem Auftrage, sich den Befehl auszubitten, damit er der Versammlung in der Schenke zur Einsicht vorgelegt werde. Der Pastor aber wies das Ansinnen ab mit den Worten: Der Befehl ist in der Kirche bekannt gegeben, das muss der Gemeinde genügen. Mehr zu tun bin ich nicht in der Lage.

Dieser Bescheid erregte in der Schenke einen ungeheuren Lärm. Es wurden Unterschriften gesammelt zu einer Petition – an wen ist nicht gesagt – unter der Drohung, wer nicht unterschreibe, solle aus der Gemeinde ausgestossen werden. Besonders schlecht kommt der Kantor weg, dem man, wie schon gesagt, alle Schuld zuschiebt. Aus dem Bericht des Geistlichen an das Konsistorium heisst es hierüber: „Der gute Kantor, der mit so viel Fleiss, Treue und Rechtschaffenheit in der Schule arbeitet und unter Gottes Segen so viel Gutes bei der Jugend stiftet, den kränkten sie äusserst und sprachen so schlecht von ihm, und soll der Richter gesagt haben, sie sollten ihm nichts zu Neujahr geben und auch nicht das Schulkorn. Er hat sich vorgenommen, keine Schule mehr zu halten, bis ihm nicht Satisfaktion gegeben ist.“

Die Unruhe dauert an, und noch am 1. Januar 1786 berichtet der Geistliche: „Indem ich mein Schreiben schliessen will, geht’s wegen des Nachtläutens in der Gemeinde abermals los. Meister Rennicke, Meister Türpe, Andreas Kurth und Daniel Goschmann sind die Hauptrebellen. Sie dringen beim Richter ein und verlangen, er soll Schritte wegen Wiedereinführung des Nachtläutens tun. Alle Vorstellungen und gütlichen Ermahnungen sind vergebens. Er muss sein Haus verlassen und sich vorläufig bei Andreas Saar aufhalten, bis sie sich beruhigt haben.“

Diese Vorkommnisse sind zu schwerwiegender Natur, als dass sie mit Stillschweigen übergangen und mit dem Mantel christlicher Nächstenliebe zugedeckt werden könnten. Das Gericht nimmt sich der Sache an, und am 21. Januar 1786 finden Zeugenvernehmungen statt.

Der Richter Meinecke sagt aus: Solange er denken könne, sei es üblich gewesen, dass an den Abenden vor den christlichen Hauptfesten von 10 bis 11 Uh geläutet wurde. Jetzt sei Aufklärung erfolgt. Überall, wo junge Leute sich über ein ihnen zugefügtes Unrecht unterhielten, ginge es lebhaft zu. Das sei auch hier gewesen, und von Rebellion könne durchaus keine Rede sein. Namensunterschriften seien nicht erzwungen worden, und die Behauptung, dass er , der Richter sein Haus habe verlassen müssen, um sich der Angriffe zu erwehren, entbehre jeder Begründung. Er müsse sich höchstlichst wundern, dass der Pastor di Gemeinde bei der Regierung in einen so üblen Ruf bringen konnte.

Die anderen fünf Geladenen sagen ähnlich aus und fügen noch hinzu: Von nächtlichen Zusammenkünften wissen wir nichts, und unsere Vermutung, dass der Befehl nicht vom Fürsten stammt, ist berechtigt, weil der Pastor schon einmal, wie er selbst zugab, einen solchen verkündete, der gar keiner war. Wahrheitswidrig ist auch der Behauptung, wir hätten  bei der Verweigerung der Unterschrift mit Ausstossen aus der Gemeinde gedroht.

Der Kantor Jakob Wilhelm Richter gibt zu Protokoll, dass einige Kirchenbesucher, z.B. Karoline Busch, gelacht und geplaudert hätten. Die Missstimmung gegen ihn beruht auf Rachsucht. Das über ihn verbreitete Gerücht, er habe mehrere Personen bei der Regierung verdächtigt, dass sie Unzucht trieben, entehre jeder Unterlage.

Der Pastor Stahlschmidt muss mit Verwunderung vernehmen, wie Türpe und Genossen sagen können, er, der Pastor, habe von der Kanzel Lügen gepredigt. Seine Ankündigung lautete: „ Da Se. Hochfürstliche Durchlaucht in Dessau eine Verordnung in Druck ergehen lassen, kraft der keiner mehr vor dem anderen vorbeigehen soll, sondern jeder, wenn er in seinen Stuhl komme, hinaufrücken solle, so würde es Hochf. Durchlaucht gefallen, wenn auch in anderen Gemeinden derselben nachgelebt würde, weil alsdann keine weiteren Unordnungen entstünden.“

Karoline Busch will nicht gelacht, sondern nur eine freundliche Miene gemacht haben.

Alle bestreiten entschieden, eine Beschuldigung gegen den Kantor ausgesprochen zu haben. Nur Mutmassungen, er könne vielleicht der Anlass zu dem Vorgehen des Fürsten gewesen sein, hätten sie geäussert.

Ein Urteil liegt nicht vor, und so ist anzunehmen, dass die ganze Angelegenheit, die so viel Staub aufwirbelte, im Sande verlief. Die Regierung war bemüht, der Sache die Spitze abzubrechen und auch die feindlichen Parteien, die doch aufeinander angewiesen waren, zeigten sich den Einigungsbestrebungen nicht abgeneigt. Übertreibungen werden auf beiden Seiten vorgekommen sein. Der Geistliche hat gewiss zu schwarz gesehen, und die Gemeinde wird in ihren Bestrebungen, sich und ihre Glieder zu entlasten und rein zu waschen, zu weit gegangen und nicht immer bei der Wahrheit geblieben sein. Die Regierung hatte dies auch bald erkannt und stellte deshalb die Aussagen nicht unter Eid, damit sich der Riss nicht noch vergrösserte.

Jetzt werden die Glocken zu allen kirchlichen Veranstaltungen ausgiebig herangezogen, und auch im bürgerlichen Leben spielen sie eine wichtige Rolle. Die hohen Feste werden durch sie eingeläutet, und beim Jahreswechsel in der Neujahrsnacht möchten wir ihren feierlichen Klang nicht vermissen. Deshalb wundern wir uns nicht wenig über das Läuteverbot des Fürsten, dem die Nachwelt den Ehrennamen „Vater“ beilegte. Wann das Verbot aufgehoben wurde, ist unbekannt. Jedenfalls geschah es sehr bald nach den geschilderten Vorgängen1.

Fussnoten
  1. K. Harnisch, verstorbener Archivar, Freckleben, Sachsen-Anhalt []